"Was glauben Sie, woher Mutterliebe kommt?"
In den Werken von Annette Beisenherz ist etwas uns allen vertrautes, unserer unmittelbaren Lebenswelt entnommene Motive, eine Realität, die uns alle in irgendeiner Form umgab, noch immer umgibt und bis zum Lebensende prägen wird – eine Familienrealität. Trotz dieser universellen Vertrautheit mit dieser Wirklichkeit, müssen wir feststellen, dass wir beim Blick auf die Litographien mit Offenheit konfrontiert und auf Interpretation angewiesen sind. Mit anderen Worten: wir befinden uns schnell inmitten einer gesellschaftlichen Konstruktion, die sich aus den unterschiedlichsten Diskurssträngen speist, angefangen vom Alltagsdiskurs und (visuellen) Semantiken von Müttern, Vätern und Kindern in Werbung, Film, Fernsehserien, Büchern und Ratgebern, über den wissenschaftlichen, entweder sozial-, erziehungs- oder biowissenschaftlichen Zweig, über sozialpolitische und ökonomische Diskursregime bis hin zu religiösen Perspektiven sowie Darstellungen aus der Kunst.
Die überindividuelle Realität der Familie ist nicht zuletzt eine Realität dieser diskursiven Unterscheidungspraxen. Und wenn wir uns soziologisch damit beschäftigen wollen, gilt es zunächst zu fragen: aufgrund welcher dominanten Unterscheidungen und Aprioris sehen wir, was wir sehen? Welche Selbstverständlichkeiten, Mythen und Leitbilder sind unserem Blick immanent? Woher stammen unsere Normalitätsvorstellungen, wenn wir von Mütter- oder Väterlichkeit sprechen? Schließlich kann man wissenssoziologisch sogar danach fragen, was uns beim Blick auf die Litographien – selbst wenn wir sie mit der künstlichen Naivität eines jeglichen Vorwissens entledigten Beobachters betrachten – überhaupt mit der Plausibilität versorgt, dass es sich hier stets um Mütter bzw. Väter mit ihrem Kind handelt.
Vor allem die korporale Einheit der Elter-Kind-Dyade bis hin zur Nichtunterscheidbarkeit körperlicher Differenz, macht deren Naturhaftigkeit in der Darstellung so evident. Das Kind an der Brust der Mutter ist eine der stärksten Symboliken, die wir kennen. „Gebären“, „Pflegen“, „Nähren“ und „Erziehen“ könnten seine Attribute lauten. Die ungeheure Suggestion der Gegebenheit, dass die Mutter ihr Kind aus ihrem Leib hervorbringt und aus den eigenen Leibeskräften nährt, macht dieses Verhältnis zur urwüchsigen Verwandtschaftsbeziehung schlechthin. Die physische Präsenz des Vaters ist dagegen weitaus problematischer, seine leibliche Performanz diffuser; „Urmenschen“ wussten nichts vom Zusammenhang zwischen Zeugung, Geburt und männlicher Beteiligung.
Und doch ist gerade auch die Mutter-Kind-Dyade eine soziale Konstruktion, in der die Verbindung zwischen Mutter und Kind weit über das biologisch Notwendige hinausgespannt wird. Diese Institution sozialer Bindung ist gleichzeitig die zentrale Figur unserer Kultur, in der die Differenz zwischen biologischer und sozialer Verwandtschaft zur Einheit gebracht wird. Genau darin besteht letztlich die Funktion der Verwandtschaftssemantik, nämlich über den Mythos von der Substanzidentität – man ist schließlich aus dem selben Fleisch und Blut – eine Dauerzusammengehörigkeit zu begründen, welche der Zerfallswahrscheinlichkeit sozialer Beziehungen prinzipiell entzogen ist. Verwandtschaft sorgt dafür, dass die Aufopferung der Eltern, die unendliche Geduld der Mutter, die lebenslange Zusammengehörigkeit und familiale Verantwortlichkeit trotz potentieller Widerstände ihre unumstößliche Evidenz in der Natur der Sache finden, anstatt der sozialen Verhandlungsdynamik ausgeliefert zu sein. Eine Mutter, die ihr Kind nicht liebt, erscheint uns geradezu als widernatürlich, und Biologen haben diese naturalisierte Liebe längst in den Genen, in latent wirksamen olfaktorischen Reizen und ähnlichen Mechanismen wissenschaftlich abgesegnet. Ihren archetypischen Ausdruck findet die Verwandtschaftssemantik in der uralten Institution der Blutsverwandtschaft, aber auch in der alltäglichen Familienkommunikation über phänotypische und charakterliche Ähnlichkeiten, in der Praxis der Durchführung von Vaterschaftstests und zuletzt immer mehr in der Kommunikation über gemeinsame Gene.
Dagegen handelt es sich bei Mutterliebe keinesfalls um eine anthropologische Konstante sondern um eine Erfindung der Neuzeit. Mutterliebe wurde dann im 19. Jahrhundert gar zur Knetmasse der sich herausbildenden Erziehungswissenschaften. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts stellte sich das Problem, Mutterliebe mit den neuen Erziehungsidealen (etwa Pflichterfüllung, Disziplin, Ordnung) kompatibel zu machen und diese in die Persönlichkeitsstruktur der Frau zu implementieren. John Watson, der sich als erster Psychologe mit „Mutterliebe“ beschäftigte, betrachtete sie gar als etwas Gefährliches und forderte ihre „Entemotionalisierung“. Nur zwanzig Jahre später kehrte sich der Prozess ins Gegenteil um: die Mutter kann ihren Pflichten bis zur Entkräftung nachgehen; sie macht sich trotzdem schuldig, solange die emotionale Bereicherung fehlt oder gar negative Empfindungen auftreten.
Eine historisch aufgeklärte Perspektive offenbart sehr schnell, wie sehr uns unsere von Mythen durchdrungenen Vorstellungen von der Vergangenheit, zu Zerfalls- und Krisenszenarien sowie von Funktionsverlust geprägten Gegenwartsdiagnosen verleiten. In der Vormoderne hatte die permanent durch personellen Ausfall bedrohte Kernfamilie selten privaten Charakter. Bei der Partnerwahl waren Arbeitstüchtigkeit und Besitz die dominanten Kriterien, Ehe war ein wirtschaftliches Verhältnis und Geschlechtsverkehr diente der Erzeugung von Nachkommen. Kinder waren potentielle Produktionsfaktoren, deren Erziehung auf möglichst schnelle Verwendung im Wirtschaftsprozess ausgerichtet war. Die affektbetonte Mutterliebe spielte im Familiendasein der Ehefrau keine zentrale Rolle. Sie ist eine evolutionäre Errungenschaft und keinesfalls historische Selbstverständlichkeit. Die bürgerliche (Normal-)Familie, die so oft als impliziter Vergleichshorizont mitgeführt wird, ist gar nur ein theoretisches Konstrukt, die reale Manifestation dieses Modells als gesellschaftlich weit verbreitetes Phänomen lässt sich historisch auf nicht einmal drei Jahrzehnte bestimmen.
Real existierende Familien der Gegenwart fügen sich weder diesen verzerrten Idealvorstellungen noch dem düsteren Bild medialer Darstellungen. Vielmehr liegt die stille Absicht solcher moraltheoretischer Rhetoriken selbst darin, Gewissheiten darüber zu simulieren, was Familie schon immer war, was in ihrer „Natur“ liegt und wie sie dementsprechend in Gegenwart und Zukunft sein soll. Die diskursstrategische Funktion beim Rekurs auf die Natur liegt ausschließlich in der Externalisierung, die dadurch erfolgt: Verhaltensprogramme etwa werden in die Gene der Frau bzw. des Mannes oder in die Tiefen eines "gegenderten" Gehirns verlagert, wodurch Kontingenz eingeschränkt und Komplexität reduziert werden. Was in den Genen liegt, muss nicht mehr entschieden werden – Entlastung durch Nicht-Entscheidbarkeit!
Wie deutlich geworden ist, handelt es sich bei der Kommunikation über Vater/Mutter/Kind um eine folgenreiche Verstrickung. Subjekt und Objekt liegen in sich verschränkt: es fällt uns schwer, sich vom Gegenstand und seinen normativen Ladungen auch nur einen Moment zu distanzieren. Wer über Familie spricht, tut dies gleichzeitigimmer auch in einer Familie, gehört seinem Gegenstand also immer schon selbst mit an.
Das Faszinierende an den Werken von Beisenherz ist, wie sie in prozessualer Weise einen Ausgleich zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen personaler Subjektivität und objektiver Symbolik herstellen. Hinter jedem Bild steckt eine sensibel begriffene Individualgeschichte, eine persönliche Situation, welche durch die Künstlerin aufs Papier gedruckt, aber im Stein gespeichert wird und von dort grundsätzlich der Vervielfältigung offensteht. Damit wird nicht zuletzt durch die Methode eine metaphorische Verbindung geschaffen, zwischen der abstrakten Idee der Mutterliebe, wie sie in kollektiven Leitbildern zum Ausdruck kommt, und ihren individuellen Ausprägungen unserer Gegenwart. Beide Sphären dringen aus den Bildern stets zu uns hindurch. Die uns in den Litographien begegnenden Akteure gehen in ihrer Bedeutung also weit über das Individuelle hinaus. Sie ermöglichen uns eine reflektierte Konfrontation von beidseits im Wandel begriffenen Familienleitbildern und einer davon abgelösten familialen Vollzugspraxis.
Peter Hoffmann, Dipl. Soziologe, München